Die folgende Rede haben wir bei der antifaschistischen Kundgebung zum 86. Jahrestag der Novemberpogrome gehalten. Die Veranstaltung, die am Deportationsdenkmal im Leipziger Hauptbahnhof stattfand, wurde getragen durch VVN/BdA Leipzig, Reclaim Antifa, Junges Forum der DIG Leipzig, fAntifa Leipzig und Gruppe Florida.
Wir haben uns hier getroffen, um an das Pogrom von 1938 in Leipzig zu erinnern. Wir erinnern an die Jüdinnen und Juden, die Opfer von Verhaftungen, Folter und brutaler Gewalt wurden. An Plünderungen, Zerstörungen und Brandstiftungen, die sich gegen Synagogen, Geschäfte jüdischer Inhaber*innen, den jüdischen Friedhof und die Höhere Israelitische Schule richteten. Wir erinnern auch daran, dass die Mehrheit der nicht-jüdischen Bürger*innen dieser Stadt nicht eingeschritten ist; viele von ihnen zusammen mit SA, SS und Gestapo am Terror beteiligt waren. Die Novemberpogrome stehen für den Beginn der organisierten Vernichtung jüdischen Lebens in Leipzig, Sachsen, Deutschland und Europa.
86 Jahre später ist jüdisches Leben fast überall gefährdet. In Sachsen und Leipzig durch eine faschistische AfD, die den antisemitisch motivierten Geschichtsrevisionismus normalisiert hat, die es normalisiert hat, die Shoah zu verharmlosen und zu leugnen. Eine AfD, die Teil einer organisierten Neonazi-Szene ist, die sich bewaffnet und für den Tag X trainiert. Seit Jahren gelingt es der extremen Rechten, den öffentlichen Diskurs zu verschieben und den autoritären Umbau der Gesellschaft voranzutreiben. Marcel Hartwig beschreibt das in der aktuellen Analyse & Kritik zutreffend: „Wer den Frosch kochen will, wirft ihn nicht in heißes Wasser, aus dem er erschrocken herausspringt; er erhöht Schritt für Schritt die Temperatur des Wassers im Topf, bis es für den Frosch zu spät ist.“ Es steht zu befürchten, dass wir es mit einer AfD zu tun haben, die in dieser Suppe, also den sächsichen Verhältnissen, durch die Kretschmer-CDU an die Macht kommen wird.
Soweit, so beschissen. Doch Jüdinnen und Juden sind seit dem Massaker vom 7. Oktober zusätzlich mit der krassen Eskalation des israelbezogenen Antisemitismus konfrontiert. Und es ist ein Skandal, dass dieser Hass auch Teile der Leipziger Linken erfassen konnte. Hand in Hand mit Islamist*innen, framen sogenannte Rote Gruppen die Massaker an Jüdinnen und Juden als „palästinensischen Befreiungskampf“. Sie übernehmen Symbole der Hamas und rufen nach der globalen Intifada. Im Kleinen werden zionistenfreie Stadtviertel, im Großen die Zerstörung Israels gefordert. Was ihr Slogan „Globalize the Intifada“ meint, war am Donnerstag in Amsterdam zu sehen. Ein Mob jagte Menschen durch die Straßen, verprügelte und misshandelte sie, nachdem sie als Jüdinnen oder Juden identifiziert worden waren. Aus Israel mussten Flugzeuge nach Amsterdam geschickt werden, um die Angegriffenen zu evakuieren. Das ist der Grad von Sicherheit und zivilgesellschaftlicher Unterstützung, den Betroffene von Antisemismus in Europa aktuell zu erwarten haben. Wie eine Welt ohne Israel aussähe, mögen wir uns nicht vorstellen. Angesichts dieser Zustände ist es für uns selbstverständlich, dass linksautoritäre und antisemitische Gruppen aus unseren Zusammenhängen ausgeschlossen werden. Mit Young Struggle, KA, FKO (und wie sie alle heißen) haben wir nichts gemein.
Wir befürchten gleichwohl, dass wir als antisemitismuskritische Linke zunehmend eine Minderheitenposition einnehmen werden, wenn es uns nicht gelingt, politische Theorie so zu vermitteln, dass sie gegen den autoritären Blödsinn dieser K-Gruppen immunisiert. Dazu braucht es eine Analyse, die die Erfahrungen mit dem Untergang des DDR-Sozialismus aufnimmt. Wir müssen verstehen, dass die ungebrochene rechte Hegemonie in Ostdeutschland an einen autoritären DDR-Staat anschließt, der wiederum heute von linksautoritären Gruppen verherrlicht wird. Wir müssen verstehen, dass sich der antizionistische und antisemitische Wahn auch aus einem autoritären vulgärmarxistischen Weltbild und seiner verkürzten Kapitalismuskritik speist.
An die Pogrome von vor 86 Jahren zu erinnern, heißt auch sich die gesellschaftliche Entwicklung im Hier-und-jetzt zu vergegenwärtigen. Als Antifaschist*innen stehen wir aktuell im Kampf gegen die extreme Rechte und ihre Steigbügelhalter. Genauso, wie gegen Islamisten, Querdenker*innen und ihre linksautoritären Helfershelfer. Eine zivilgesellschaftliche Mehrheit, die sich dem Zug zum Autoritären entgegenstellt, gab es nicht, gibt es nicht und wird es hier in naher Zukunft nicht geben. Aber um ehrlich zu sein: Das ist gar keine neue Situation für uns. Selbstorganisation und pragmatischer Selbstschutz sind schon immer das Fundament antifaschistischer Arbeit in Ostdeutschland. Konzentrieren wir uns darauf, antifaschistische Strukturen gegen Angriffe von rechten und linksautoritären Gruppen abzusichern. Lasst uns funktionierende Netzwerke mit Gruppen in ländlichen Regionen auf- und ausbauen. Organisieren wir uns so, dass wir Menschen, die von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind, konkret helfen können. Und bleiben wir weiterhin pragmatische Aktivist*innen: Zum Beispiel auch, indem wir das AfD-Verbot fordern.
Wir rufen alle Antifaschist*innen dazu auf, sich in verbindlichen Strukturen zu organisieren. Das kann – wie in unserem Fall – die Gründung einer kleinen Ü30-Antifa bedeuten. Der Rückzug ins Private kann angesichts der aktuellen Bedrohungslage jedenfalls keine Option mehr sein.